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Regisseur Guillermo del Toro über «Nightmare Alley»

«Am Ende sind die Menschen die schlimmsten Monster»

Sein Film spielt Ende der 1930er-Jahre. Doch Guillermo del Toros (57) «Nightmare Alley» ist wie eine Vorausschau auf das Leben in der heutigen Zeit, das geprägt von Social Media und Fake News ist. Für den Mexikaner könnte das Thema nicht zeitgemässer sein, wie er im Interview mit streaming.ch verrät.

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Nightmare Alley

Wer ist abgebrühter? Dr. Lilith Ritter (Cate Blanchett) und Stanton Carlisle (Bradley Cooper).

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Der vierfach für den Oscar nominierte Film handelt von einer Welt voller Lügner und Scharlatane, die die Wahrheit manipulieren, um mehr Reichtum und Power zu bekommen.  

Der im Noir-Stil gedrehte Thriller ist ein Remake von «Der Scharlatan» aus dem Jahr 1947. Bradley Cooper spielt den Landstreicher Stanton Carlisle, der von seiner eigenen dunklen Vergangenheit flieht – bis er sich aus Geldknappheit einem düsteren Jahrmarkt anschliesst. Mit Hilfe der Mentalistin Zeena (Toni Collette) entwickelt er ein Talent, Zuschauer zu manipulieren und ihnen weiszumachen, er habe übersinnliche Kräfte. Stanton beschliesst, dass ihm das Jahrmarktleben zu klein geworden ist und er in der Grossstadt Karriere als Showstar machen will. Dann gerät er mit seiner Masche an die Psychiaterin Lillith (Cate Blanchett), die noch besser und abgebrühter mit ihrer Manipulation von Menschen ist als Stanton selbst. 

Für Regisseur Guillermo del Toro könnte das Thema seines Films nicht zeitgemässer sein: «Wir leben in einer Ära jenseits von Wahrheit und ehrlicher Diskussion. Jeder kreiert sich seine eigene Wahrheit und stellt sich Informationen so zusammen, dass sie in seine vorgefertigte Meinung passen.»

Ihr letzter Film «The Shape of Water», für den Sie den Regie-Oscar gewonnen haben, liegt vier Jahre zurück. Warum gab es nach Ihrem grössten Erfolg eine solch lange schöpferische Pause?

Guillermo del Toro: Ich brauche mindestens neun Monate, um das Konzept für einen Film zu kreieren. Um das Drehbuch fertig zu bekommen, dauert es dann meist bis eineinhalb Jahre. Und dann kam noch die Corona-Pandemie dazwischen, und wir mussten weitere sechs Monate warten. Es war schon ein langer Prozess.

Wie sind Sie darauf gekommen, das Remake von einem 75 Jahre alten Film zu drehen?

Ich habe das Buch vor vielen Jahren und vor vielen überschüssigen Pfunden gelesen (streicht sich über seinen Bauch). Es war 1992. Und ich bin damals zu den Produzenten der Fox-Studios gegangen und habe ihnen meine Vision eines Remakes vorgeschlagen. Ich wurde mit den Worten «Das wurde schon gedreht, hau ab!» wieder weggeschickt. Ich musste sogar das Parken auf dem Studiogelände selber bezahlen. Das Buch ist mir danach aber nie wieder aus dem Kopf gegangen.

Und 30 Jahre später ist Ihr Film im Oscar-Rennen. Gut Ding will scheinbar Weile haben.

Ich habe so lange gewartet, bis ich die Freiheit hatte, den Film so zu drehen, wie ich es wollte. 

«Nightmare Alley» ist eine Premiere für Sie: der erste Film ohne Fantasy-Elemente.

Das stimmt. Und dennoch habe ich auch hier meinen roten Faden behalten. Denn auch in diesem Film, so wie in allen meinen anderen, sind am Ende die Menschen die schlimmsten Monster. Unsere Kapazitäten, grundlos brutal miteinander umzugehen, sind unerschöpflich. Und ich versuche, der Gesellschaft mit meinen Filmen einen Spiegel vorzuhalten. In der Hoffnung, dass sich Leute selbst erkennen.

Waren Sie früher als Kind auch auf Jahrmärkten?

Ich war von Jahrmärkten besessen als kleiner Junge. Ich habe mich von meinen Erinnerungen inspirieren lassen. Die Spinnenfrau zum Beispiel war eine Attraktion auf dem Jahrmarkt, die ich im Alter von vier oder fünf Jahren in Mexiko gesehen habe. Jahrmärkte und Filme haben mir als Kind geholfen, nicht völlig abzudrehen. Sie waren Magie für mich.

Läuft ein Dreh anders ab, wenn man oscarprämierte Weltstars wie Bradley Cooper, Toni Collette und Cate Blanchett vor der Kamera stehen hat?

Ja, es war eine ganz andere Form der Partnerschaft. Ich habe mit 57 Jahren noch Dinge über das Filmen gelernt, die ich noch nicht wusste. Es war eine echte Kollaboration mit unglaublich kreativen Menschen. Besonders mit Bradley Cooper war es so, als hätte ich ein zweites Paar Augen beim Dreh. Er ist selbst an den Tagen, wo er keine Szenen hatte, am Set gewesen und hat Ideen eingebracht. Ich habe diesen Film wegen ihm teilweise ganz anders gedreht als je zuvor.

Haben Sie ein Beispiel dafür?

Ich drehe normalerweise an den ersten Tagen immer nur kleine, kurze Szenen zum Warmwerden. Am ersten Tag gab es eine Szene zwischen Cate und Bradley, von der ich nur ein paar Sekunden aufnehmen wollte. Die beiden waren aber so unglaublich gut, und Bradley wollte nicht stoppen. Er rief «Lass laufen, lass laufen!» – und wir haben die ganze Szene in einem einzigen Stück gedreht. Ich bin den beiden einfach nur mit der Kamera gefolgt. Das Ergebnis war umwerfend gut. 

Es ist schwierig, Sympathien für die ziemlich dunkle Hauptfigur zu verspüren …

… und trotzdem kann sich jeder mit einem Stan identifizieren. Denn er steht für den wichtigsten Moment im Leben eines Menschen – in welchem man endlich mit sich selbst ehrlich ist und rausfindet und sich eingesteht, wer man wirklich ist. Manche Leute finden das leider erst sehr spät heraus, manchmal sogar nur Minuten vor ihrem Tod.

Sie deuten es gerade an: Ein richtiges Happy End gibt es nicht gerade.

Wenn Sie ein Happy End wollen, müssen Sie den Film nach der Hälfte abschalten. Wo Stan das Girl bekommt und den Jahrmarkt verlässt, um seinen Träumen nachzugehen. Der Rest ist dann weniger rosig, aber sehenswert! 

 

Guillermo del Toro (M.) am Set von «Nightmare Alley» mit Richard Jenkins (l.) und Bradley Cooper (r.)

Guillermo del Toro (M.) am Set von «Nightmare Alley» mit Richard Jenkins (l.) und Bradley Cooper (r.).

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Die Kritik zu «Nightmare Alley»

Zauberer, Freaks, Clowns: Gibt es einen besseren Ort für ein düsteres Drama über Sein und Schein, über Abgründe und Talent als den Zirkus? Im Zentrum von «Nightmare Alley» steht Herumtreiber Stan (Bradley Cooper). Er heuert bei einem Wanderzirkus an und trickst sich mit Arglist nach oben, hat etwa eine Idee, wie man die Stromshow von Molly (Rooney Mara) noch zuspitzen kann: mit einem elektrischen Stuhl.

Zugleich lernt er von Pete (David Strathairn) die Geheimnisse der Wahrsagerei. Als Pete sich zu Tode säuft, verlässt Stan den Zirkus und zieht in der Stadt eine Wahrsager-Show auf. Eines Abends sitzt die resolute Psychologin Lilith (Cate Blanchett) im Publikum. Beide realisieren sofort, dass sie die Kunst der Manipulation beherrschen, und beschliessen, reiche Leute auszunehmen.

Von Monstern und Menschen, die sie zu Monstern machen, und von der Manipulation der Gefühle, davon handelt Guillermo del Toros neuster Film. Nach dem Oscargewinn mit «Shape of Water» hat er nun das düstere Buch (1946) von William L. Gresham adaptiert. Wie er die Welt des Zirkus und der Wahrsagerei zeichnet, ist atemberaubend. Der zynische Schluss wirkt etwas gar zugespitzt – doch «Nightmare Alley» ist schaurig schön.

Nightmare Alley ★★★★☆

Disney+ | Horrordrama

Mit Bradley Cooper, Rooney Mara, Toni Collette, Cate Blanchett, Willem Dafoe, Ron Perlman u.a.

USA 2021, ab 16. März 2022

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Von Christian Thiele und Antonio Gattoni am 15. März 2022 - 10:49 Uhr